Elektronisches Publizieren: Vor dem Phasensprung

Dem wissenschaftlichen Veröffentlichungswesen steht eine Revolution bevor

Physiker gehörten zu den ersten, die die Vorteile der e-mail für die Kommunikation unter Fachkollegen entdeckten und nutzten. Doch die elektronische Distribution von Preprints über das Internet ist nur die Speerspitze einer radikalen Umwälzung des wissenschaftlichen Publikationswesens. Das Ziel, der schnelle Zugriff auf Veröffentlichungen mit dem Arbeitsplatz-Computer, ist klar weit weniger klar hingegen ist, wer welche Rolle übernimmt, insbesondere bei wem die Verantwortung für die Infrastruktur liegen soll

"In der Physik findet die Zukunft heute schon statt." Hans Kreutzfeld weiß, wovon er redet: Der Diplom-Physiker als Verlagsleiter im Bertelsmann Lexikon Verlag für die elektronischen Medien zuständig verfolgt aufmerksam, wo die Trends gesetzt werden. "Fachzeitschriften gehören auf die elektronische Ebene, denn damit kann man die Inhalte sehr viel besser aufschließen als mit einem Printwerk."

In der Hochenergiephysik ist der Phasensprung bereits vollzogen; die elektronische Veröffentlichung geht der gedruckten voraus. Als das Archiv für Hochenergie-Preprints von Paul Ginsparg 1991 am Los Alamos National Laboratory eingerichtet wurde, nutzten 160 Physiker den neuen Dienst; inzwischen sind es 3100 aus 50 Ländern. Im LANL-Server Ginspargs mit Arbeiten vertreten zu sein, sei inzwischen ein "Karriere-Muß", meint der Oldenburger Physiker Eberhard Hilf; "Wer nicht umsonst arbeiten will, muß von der Professional Community wahrgenommen werden."

Und das geht über die elektronischen Netze offenbar besser als über das langsame Medium Papier, wo zwischen dem Einreichen einer Arbeit und dem Erscheinen oft mehr als ein Jahr vergeht und es noch einmal so lange dauert, bis die bibliographischen Daten der Veröffentlichung auf Datenbanken und in einschlägigen Referateorganen verfügbar sind. "Das ist gerade in dynamischen Gebieten unheimlich viel", meint der Mathematiker Wolfram Sperber vom Konrad-Zuse-Institut in Berlin, ünd die sogenannte Graue Literatur` erscheint sowieso nicht in den Referateorganen".

Zehn elektronische Zeitschriften gibt es bereits in der Mathematik, etwa gleich viele in der Physik, und die Zahl nimmt ständig zu. Im Juni kündigte das American Institute of Physics (AIP) die elektronische Version der Applied Physics Letters, APL Online ab Januar 1995 an; die Physical Review Letters sollen Mitte des nächsten Jahres folgen.

Wie in jeder Revolution gibt es auch radikale Protagonisten. "Je eher wir die Zeitschriften loswerden, desto besser", meint beispielsweise der Physiker David Mermin von der Cornell University. Ünser Versäumnis, die Antiquiertheit von Zeitschriften zu erkennen, hat die wissenschaftliche Kommunikation effektiv auf Cliquen und Insider-Gruppen beschränkt."

Aber es ist keineswegs nur `Graue Literatur', die auf diesem Wege erschlossen wird; beim Electronic Journal of Differential Equations dem Electronic Journal of Combinatorics, sowie bei dem neuen Journal of Universal Computer Science (J.UCS) aus dem Springer-Verlag handelt es sich um Publikationsorgane. für die das Peer Review durch die wissenschaftlichen Herausgeber ebenso selbstverständlich ist wie für die gedruckten Vorbilder.

Derzeit plant Springer nicht, auch die Zeitschrift für Physik online anzubieten. "Die Entwicklung geht sehr schnell, doch sie geht schrittweise", erklärt Gertraud Griepke, Abteilungsleiterin Elektronische Medien bei Springer in Heidelberg. Und Springer-Geschäftsführer Bernhard Lewerich gibt sich gelassen. "Ich glaube nicht, daß Electronic Publishing die referierten Journale auf Papier ins Abseits drängen wird", meint er. "Wir werden weiterhin Journale und Bücher auf Papier verlegen, und daneben rein elektronische Medien entwickeln und vermarkten."

Doch in manchen Ohren klingt das eher wie das Pfeifen im Walde. "Die kommerziellen Verlage bewahren nach außen hin vielleicht ein kühles Gesicht. aber intern sind sie kräftig tätig", glaubt Eberhard Hilf, "die sind am Rotieren." Denn der Druck auf die Verlage steigt` und das gleich aus drei Richtungen:

- von den Autoren

- von der Software- und Netzentwicklung

- von den schrumpfenden Bibliotheksetats.

Die Autoren sind bereits zunehmend gehalten. ihre Manuskripte in elektronischer Form zu editieren, etwa mit dem Editor TEX. und als ,Compuscnpt` einzureichen, weil dies den Verlagen die elektronische Drucklegung erleichtert. Doch wenn bereits die Druckstufen durchgängig elektronisiert sind (von den 280 Titeln bei Springer ist das bei 95 der Fall), dann liegt es nahe, ohne Medienbruch nun auch die Distribution über das Netz zu vollziehen und damit die Information online schneller und zugriffsfreundlicher den Lesern anzubieten zumal die Autoren diesen Weg via e-mail auch direkt und ohne den Umweg über die Verlage gehen können.

Die Software- und Netzentwicklung macht es möglich: Über das Internet sind weltweit rund 12000 Netze und circa zwei Millionen Host-Computer erreichbar. Von diesen verfügen bereits etwa 2000 über einen WWW-Server, d. h. eine Steuer-Software vergleichbar der einer Telefonvermittlung, die im Zusammenspiel mit einem entsprechenden Client, das gezielte Ansteuern und Suchen einer Datei in der weltumspannenden virtuellen Bibliothek all dieser Rechner gestattet. (Beim Client` handelt es sich um eine Retrieval (=Such1Abfrage- >Software auf dem Arbeitsplatz-Computer. etwa `Mosaic' oder `WWW-Worm'.) Wenn dieses Kommunikationsmodell Verbreitung findet und alles spricht dafür -, dann werden Zeitschriften im Lesesaal zu einem Anachronismus.*) click for footnote "Man wird niemanden mehr benötigen, der an einem Schalter sitzt und die Werke ausgibt, ausgenommen vielleicht für die ganz alten Sachen". meint Andrew Odlyzko, Mathematiker beim amerikanischen Telekommunikationskonzern AT&T und ein führender Kopf in Sachen Electronic Publishing bei der American Mathematical Society (AMS).

Schrumpfende Bibliotheksetats sind die dritte Determinante der Entwicklung. Kaum ein Fachbereich kann es sich noch leisten, sämtliche Zeitschriften zu halten, geschweige denn solche in Randgebieten. Gerade die aber sind in neu sich ausdifferenzierenden Teildisziplinen und Fragestellungen oft von besonderem Interesse: und die stehen meist ganz oben auf der Liste, wenn Kürzungen der Bibliotheksetats Abbestellungen erzwingen. Da ist die Möglichkeit. online schneller und bequemer an die relevante Information zu kommen eine attraktive Alternative. Die Kosten einer guten Fachbereichsbibliothek Literaturbeschaffung, Personal und Raum beziffert Odlyzko auf 500 000 Dollar; dagegen schlägt die 1.5-Mbit/s-Verbindung in den USA nur mit etwa 20 000 Dollar jährlich zu Buche. "Das ist viel", meint Odlyzko, "aber eine Bibliothek zu unterhalten ist sehr viel teurer".

                     FACHVERLAGE
                     Peer Review
                      Editieren
                     Distribution

  FACHINFORMATIONSZENTREN      BIBLIOTHEKEN  
       Dokumentation            Beschaffung
      Abstract Service         Archivierung
      Online-Recherche         Dokumentation 
                               Freihand-Recherche

Fachinformation heute: In der Arbeitsteilung ist ein neues Optimum gesucht wer übernimmt was?

"Keine ersichtliche Notwendigkeit" sieht der amerikanische Mathematiker für Verlage, selbst wenn sie nun auf die elektronische Distribution umsteigen. "Die meisten Paper sind von Spezialisten für Spezialisten geschrieben", meint er, und unabhängig vom Distributionsmedium entstehen den Verlegern Fixkosten von durchschnittlich 4000 Dollar pro Verötfentlichung; wollten sie diese in einem elektronischen pay-per-view System wieder hereinholen, mußten sie bei einer angenommenen `Schar' von zwanzig Lesern jedem 200$ abverlangen, und das w&uuuml;rde niemand bezahlen.

Odlyzkos Rechnung deutet den langsamen Abschied vom Zeitschriften-Modell an. Forscher kennen ohnehin keine Blattbindung, Recherchen sind in erster Linie ein kombinatorisches Problem. Nicht alles in der einen Fachzeitschnft ist von Interesse, und umgekehrt ist vieles relevant, was in den Blättern anderer Verlage oder in einschlägigen Zeitschriften anderer Fachgebiete publiziert wird. "Der Leser liest ja keine APS-, Elsevier- oder Springer-Zeitschriften - er sucht die Information, die ihm nützlich ist, und dabei kümmert ihn eigentlich wenig, woher sie stammt" bringt Robert Kelly, bei der APS für die Einführung der elektronischen Journale zuständig, das Leseverhalten auf den Punkt.

Für Eberhard Hilf. Mitglied der Arbeitsgruppe `Elektronische Fachinformation und Kommumikation' (ELFIKOM) in der DPG wäre es "ein größer Gewinn, wenn die Verlage alles, was sie bisher zerstückelt einzeln zusammen stellen - `Zeitschriften' genannt -, elektronisch als Paket anbieten würden". Dann köte sich jeder Forscher eine Art Stichwort-Filter auf seinen Server legen und aus dem Paket selbst heraussuchen, was er lesen und ausdrucken will. Entsprechende Software-Tools gibt es bereits z.B. das Retrieval Werkzeug WAIS (Wide-Area Information Server). "Das ist das Modell", glaubt Hilf, "auf das es hinauslaufen wird."

Die Frage ist nur: Wer macht was? "Natürlich kann man dar technisch so organisieren. daß die Autoren ihre Manuskripte lokal auf eine Datenbank legen, über WWW anbieten und über Mosaic sich suchen lassen", meint der Oldenburger Physiker. "Die Verlage sind hochsensibilisiert: im Prinzip brauchte man sie nicht, und das wissen sie natürlich."

Daß solche Entwicklungen an die Wurzeln ihrer Existenz geht, haben die Verlage offenbar erkannt. Springers J.UCS-Projekt ist der Versuch, die Veröffentlichungen einer gesamten Community auf einer umfassenden elektronischen Plattform zu bündeln; 160 namhafte Gründungsherausgeber aus dem Gebiet der Computer Science konnten dafür gewonnen werden (darunter Odlyzko). Von 1995 an sollen die begutachteten Beiträge auf (bislang) 50 Servern an Universitäten gegen eine Lizenzgebühr von 100$ pro Nutzer bereitstehen; als Server Software kommt Hyper-G, eine Weiterentwicklung von WWW, zum Einsatz. Hyper-G erlaubt es, `Links', also Querverweise auf andere Arbeiten nicht durch Anklicken mit der Maus aufzurufen, sondern auch netzplanartig graphisch darzustellen. (Das `forward referencing' gestattet insbesondere die Darstellung von `Links' zu späteren Arbeiten, die eine bestimmte Arbeit zitieren.) Zusätzlich zu dem monatlich aktualisierten Online-Dienst soll J.UCS jahrgangsweise auf CD-ROM und gedruckt erscheinen.

Ein ähnliches `Super-Journal' könnte sich als Ergebnis des noch bis 1995 laufenden TULIP-Projektes von Elsevier Science B.V. im Bereich der Materialwissenschaften herauskristallisieren. In TULIP (The University LIcensing Program) hat der mit 1100 Titeln größte unter den wissenschaftlichen Verlagen insgesamt 43 Fachzeitschriften - vom Chemical Engineering Journal bis zu Physica C - eingebracht. Dabei erfolgt die Distribution pro Zeitschrift im Abonnement über das Internet an die zehn beteiligten amerikanischen Universitäten. darunter die Cornell University, das MIT und die neun Standorte der University of California. Das Handling der Subskriptionen übemimmt der Host-Rechner von Engineering Infomation (EI) in Westbury. New York insgesamt ein Datenfluß von 11 GB jährlich. was etwa dem dreifachen Volumen der Encyclopedia Britannica entspricht.

Im Elsevier Modell dienen als Vorlage dei elektronischen Verbreitung derzeit noch die Papierversionen der einzelnen Journale. Deren Volltext wird als Bitmap-File eingescanned; dabei bleiben die unterschiedlichen Formate, Schrifttypen und Layouts erhalten: lediglich die bibliographische Information und Abstracts stehen als ASCII-Text fur Recherchen mittels Boolescher Operatoren zur Vertugung. "Ein Zwischenschritt", wie Paul Mostert. der technische Koordinator von TULIP bei Elsevier, das Vorgehen erläutert. "Derzeit konsolidiert Elsevier Science die Produktionsmethoden, so daß der Output in einem einheitlichen elektronischen Format gestaltet werden kann.

Gemeint ist SGML (Standard General Markup Language), eine Art Meta-Sprache zum elektronischen Dokumentenaustausch für die unterschiedlichen Textverarbeitungssysteme. Weil SGML die logische Struktur des Dokumentes (wie Überschrift, Untertitel, Abstract, Text, Bild) vom Layout (einspaltig, zweispaltig, Hoch- oder Querformat, usw.) trennt, können Texte, Formeln und Bilder eines SGML-Compuscript unabhängig vom Ausgabermedium und -format editiert werden. In zwei bis drei Jahren, schätzt Mostert, werden sämtliche Elsevier-Zeitschriften auf den neuen Standard umgestellt sein.

Spätestens dann jedoch. wenn die Vorhaltung auf Servern (durch wen auch immer) elektronische Volltext-Recherchen erlaubt. wird die überkommene Bindung an Zeitschriften obsolet. Und damit sehr wahrscheinlich auch die bibliographischen Informationen, die Online-Datenbanken wie PHYS, MATH, COMPUSCIENCE u.a. heute vorhalten. An der Verbindung von Abstract-Service und Volltext-Retrieval führe kein Weg vorbei meint Hilf. Und das sind schlechte Aussichten für das FIZ Karlsruhe. Nach Hilfs Ansicht hat das FIZ bisher nicht signalisiert. wo es seine Marktlücke sieht.

Der Weg zu einem Originalbeitrag ist derzeit noch voller Medienbrüche: Ist die Quelle etwa mittels PHYS (jetzt INSPEC) lokalisiert und die entsprechende Zeitschrift nicht im eigenen Hause vorhanden. bleibt die Technische Informationsbibliothek (TIB) mit ihrem Bestand von 18 000 Zeitschriften in Hannover. Dort kann man vom eigenen PC aus zwar online bestellen. mitnichten aber beziehen: Gezogen wird eine Fotokopie aus der Zeitschrift. und geliefert mit der Gelben Post. in eiligen Fällen per Telefax. Im Zeitalter von Mail und elektronischem FiIe Transter bleibt das Verfahren weit hinter dem Stand der Technik zuruck: der Online-Zugriff auf den Volltext ist, von wenigen Ausnahmen wie Patentdokumenten abgesehen, nicht möglich.

"Das hangt mit dem Urheberrecht zusammen, erklart TIB-Bibliothekarin Antje Schroder das aufwendige Umwegverfahren. Die Verlage als Inhaber des Copyrights untersagen generell die elektronische Speicherung und Vervielfaltigung ihrer Publikationen. Aus naheliegenden Gründen. Sie wollen sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Alle großen Bibliotheken Hilf charakterisiert sie als - "Dinosaurier in einem Klimawechsel" - verhandeln zwar mit den Verlegern, doch sie stehen überall aut verlorenem Posten. "Die Diskussionen ziehen sich hin", berichtet Sarah Keates von der British Library, die insgesamt 130 000 Zeitschriftentitel hält: "eine Übereinkunft ist noch nicht gefunden worden".

"Die Bibliotheken sind bedroht, das muß man einfach konstatieren", meint auch Bertelsmann-Verlagsleiter Hans Kreutzfeld. Seiner Meinung nach ist es "symptomatisch für die gesamte Situation, daß die verschiedenen Instanzen um ihren Platz kämpfen". Und wie das Beispiel der Hochenergie-Theoretiker zeigt, ist durchaus denkbar, daß "Professional Communities" die Entwicklung in die eigene Hand nehmen. Auch bei der Deutschen Mathematiker Vereinigung (DMV) liebäugelt man mit dezentralen Modellen verteilter elektronischer Fachinformation. bei denen die einzelnen Fachbereiche neben den Veröffentlichungen auch Vorlesungsskripte, Software oder Projektinformationen auf Servern selbst vorhalten. Möglicherweise ist das die Kommunikationsform der Zukunft, und für Verlage darin kein Platz mehr. "Es ist alles offen", so DMV-Präsident Martin Grötschel, "und das macht es spannend".

Doch Eberhard Hilf mag an solche Lösungen nicht recht glauben. "Die Physiker werden zu faul sein, auf Dauer ihre Manuskripte auf Server zu legen und die Verfügbarkeit zu garantieren", vermutet er. "Bei solchen Service-Aufgaben tun die Physiker gut daran, sie anderen zu uberlassen."

Im Mai haben die Gesellschaft fur Informatik (GI), die DMV, die Gesellschaft deutscher Chemiker (GdCH) und die DPG erste Vorstellungen zur Weiterentwicklung der Fachinformation beim BMFT eingereicht; dort werden sie derzeit geprüft, und noch im Herbst sollen dann auf der Grundlage des neuen Fachinformationsprogramms die endgültigen Anträge gestellt werden. Ob es allerdings noch Sinn macht, wenn jede der vier Gesellschaften eigene Modelle verfolgt, bezweifeln inzwischen selbst einige der Beteiligten. Angesichts der radikalen Umwälzungen im wissenschaftlichen Veröffentlichungswesen ist es wohl wichtiger, zu einer gemeinsamen Strategie zu kommen und sich damit in die internationale Entwicklung einzukoppeln.


Dipl.-Phys. Richard Sietmann (Wissenschaftsjournalist)

Senzker Straße 6, D-13591 Berlin.

Phys. Bl. 50(1994) Nr. 9