Chaotische Nachrichten Nr. 34 / Online-Ausgabe


Dornröschenschlaf

Dornroeschen Wenn man die Chaos-Gruppe und deren Aktivitäten zumindest seit der letzten Tagung "Chaos und Strukturbildung" im Jahre 1999 beobachtet, fällt einem vielleicht ganz zwangslos das Märchen "Dornröschen" ein. Das Märchen erzählt von einem Königspaar, deren Tochter im Alter von 15 Jahren zusammen mit dem ganzen Hofstaat in einen hundertjährigen Schlaf fällt. Viele Prinzen wollen sie haben, aber die Dornenhecke hält sie fest, und sie sterben. Erst als die Zeit reif ist, gelingt es einem Prinzen nahezu mühelos, die Prinzessin und damit alles Leben im Schloß zu erwecken.

Dornroeschen Das ist zunächst mal ein Märchen für Kinder, oder eine schöne Geschichte zur Psychoanalyse, wie Angela Seifert sie in ihrem Buch [1] betreibt. Mit der Chaosforschung hat das noch mehr zu tun als ein Plot für den Verein zu sein. Denn wenn man im Buch weiterliest, stößt man auf ein Kapitel "Kairos", ein griechisches Wort, was sie mit "erfüllte Zeit, Zeitwende, der Augenblick der Entscheidung" übersetzt. Da fällt einem natürlich auch gleich das Buch Kohelet [2] ein: "Für alles gibt es eine Stunde..."

Aber es geht noch weiter. Ein paar Seiten später heißt es bei Seifert: "Denn wenn es gelingt, einen Blick aus der Befangenheit des bewussten Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Denkens hiauszuwerfen in die Zeitlosigkeit des Unbewussten, dann ist zu erkennen, dass alles mit allem stets verbunden ist, sich bewegt, aber nicht linear, sondern rhythmisch pulsierend, und so eine Ordnung einen Sinn ergibt." [1, S.118/119]
Alles ist mit allem verbunden, das haben die viele Leute (vor allem Nicht-Naturwissenschaftler) verstanden, wenn wir so um 1990 rum (warum denke ich jetzt da an die deutsche Wiedervereinigung?) von Chaos geredet haben. Gesagt haben wir es natürlich nie. Es hätte unsere Forschung ja auch nicht weitergebracht. Wenn sich kein System herausschälen lässt, schaut es schlecht aus mit der Systemtheorie.
Da gibt es noch einen anderen Autor, der mir in diesem Zusammenhang einfällt: Erwin Schrödinger, der seinen Epilog zu seinem Buch [3] beginnt mit: "Als Belohnung für all die Mühe, die ich auf die Darlegung der rein wissenschaftlichen Seite unseres Problems sine ira et studio verwandt habe, gestatte ich mir hier ...", und dann kommt der Satz, daß "Bewusstsein" ein Singular ist, also es nur ein Bewusstsein gibt, an dem wir alle gemeinsam teilhaben. Also hängt auch auf Bewusstseinsebene alles mit allem zusammen.

Nur, man darf es fast nicht sagen, außer vielleicht in einem wohlverdienten Epilog. Schade, da hätte ich gerne weitergelesen.

Werner Eberl

Literatur:
[1] Angela Seifert: Auch des Vaters liebste Tochter wandelt sich zur Frau. Reihe "Mit Märchen leben", Band "Dornröschen", Kreuz Verlag, Stuttgart, 2001, ISBN 3-7831-1943-X
[2] Koh 3,1-8
[3] Erwin Schrödinger: Was ist Leben. Serie Piper. Originalausgabe "What is life?" 1944, Neuausgabe 1989, München, ISBN 3-492-21134-8 (jetzt aktuelle Ausgabe von 1999)